Laut Expertenaussagen befinden wir uns derzeit an einem Punkt, an dem physische und digitale Welten aufeinander prallen. Viele glauben daher an eine komplett vernetzte Zukunft – und das vor allem in der Industrie. Mit der Entwicklung hin zu Industrie 4.0 auf Basis von Cyber-Physical Systemen prognostizieren Wissenschaftler eine vierte industrielle Revolution. Daraus entstehen neue Chancen und Herausforderungen für den Handel und den neu geschaffenen „phygitalischen E-Commerce“.
Phygitale Welten – Überblick und Orientierung

Abb.: Phygitale Welten – Die Konvergenz zwischen der Online- und Offline-Welt
Digital trifft Realität
Die Konvergenz zwischen Analog und Digital scheint unaufhaltsam geworden zu sein. Dies spiegelt sich auch in den Objekten und Produkten wider, bei denen sowohl physische als auch digitale Funktionen aufeinander treffen. Folglich entstehen phygitale Objekte. So lässt sich beobachten, dass sich digitale Produkte und Marken verstärkt an greifbaren Dingen orientieren. Als Beispiel kann hier der „Little Printer“ genannt werden, der es ermöglicht Neuigkeiten aus dem sozialen Netzwerk als Miniaturzeitung auszudrucken.
Andererseits lässt sich beobachten, dass physische Produkte vermehrt mit einem digitalen Nutzen angereichert werden. In diesem Zusammenhang soll auf die Serie Nike+ verwiesen werden, die eine komplette Servicewelt um sich herum erschaffen hat. Mit Hilfe von Sensoren können die Performance und Leistung gemessen werden. Die gewonnenen Daten werden dabei in einem Onlineprofil gespeichert und ausgewertet.
Phygital Marketing
Auch im Marketing ist der Trend bereits angekommen und es wird die digitale mit der analogen Welt verbunden – und das mit großem Erfolg: In der T-Mobile Kampagne „Life for sharing“ verschmolz das beliebte Smartphone-Game „Angry Birds“ die digitale Welt mit der Realität und sorgte für einen Marketing-Gag der besonderen Art. Das Video zeigt einen physischen „Angry Bird“, der aus der digitalen Welt herausspringt:
Das Event sorgte dafür, dass sich Menschen mit ihren Smartphones ansammelten, um an dem Spiel teilzunehmen. In diesem Zusammenhang kann auch von „Reversed Augmented Reality“ gesprochen werden. Ein anderes Beispiel ist die Kampagne von Volkswagen aus dem Jahre 2011. Die VW-Beatle-Kampagne verbindet die Print-Ad mit Augmented Reality und schafft dadurch eine „phygital experience“.
Der Trend „physical & digital“ befindet sich bereits seit längerem auf dem Vormarsch und wird durch neue und innovative Technologien wie QR-Codes oder Augmented Reality vorangetrieben – ein Phänomen, das in unserem Alltag – dank mobiler Endgeräte – immer mehr zur Normalität wird. In diesem Zusammenhang bedeutet „Phygital“ auch neue Herausforderungen und Chancen im Handel. Das Phänomen wird vor allem durch das Thema Mobile und Innovative Technologien voran getrieben und schafft neue Berührungspunkte mit verschiedenen Produkten – an jedem Ort und zu jeder Zeit. Produkte werden dadurch nicht nur anschaulicher und informativer präsentiert – die Verbindung zu den Kunden und Usern wird durch die Interaktion auch intensiver, emotionaler und spannender.
An der Schnittstelle von „Phygital“ wird bereits an Innovationen gearbeitet, die Prozesse in der Industrie maßgeblich verändern bzw. zukünftig verändern werden. In diesem Zusammenhang ist auch oft die Rede von „Cyber-Physical-Systems“. „Digitale Fabriken“ – damit sind virtuelle Abbilder realer Produktionsstätten gemeint – sind im Moment zwar noch nicht im Einklang mit den realen Fabriken, intelligente Produkte führen jedoch bereits jetzt schon zu einer Verzahnung von digitalen und analogen Prozessen.
Phygital Ecosystems – Zwischen Marken und Kunden
Die verschiedenen Kommunikationskanäle wachsen immer mehr zusammen. Eine Trennung zwischen TV, Outdoor-Werbung, Direct Marketing und PR ist kaum mehr möglich. In diesem Zusammenhang wird eine zusätzliche Dimension von Interaktion geschaffen. Dieser Trend lässt sich ganz klar erkennen und scheint unaufhaltsam zu sein.
Mit der sogenannten Generation Connected gibt es keinen Unterschied mehr zwischen Online und Offline. Die Welten verschmelzen miteinander. Für die erfolgreiche Vermarktung eines Produkts bedeutet das, sich in physischen und digitalen Räumen zu bewegen. Zwischen den zwei Welten entsteht eine symbiotische Beziehung, die sich untereinander ergänzt und neue Erfahrungen schafft. Für Menschen, die nach dem Jahr 1995 geboren sind, verschwimmen die Grenzen zwischen der Offline- und Online- Welt. Erfahrungen und Interaktionen vermischen sich – egal, ob mit Freunden kommuniziert oder mit der Lieblings-Marke interagiert wird. Folglich ist es mit „Phygital“ möglich, virtuelle Aktionen mit realen Produkten zu verbinden und so ein neues Shopping-Erlebnis zu schaffen.
In der phygitalen Welt ist es vor allem von Bedeutung, dass Marken auf sämtlichen Kanälen für Kunden präsent sind und die Berührungspunkte ausgeweitet werden. So ist es wichtig, Produkte an der richtigen Stelle zur richtigen Zeit zu platzieren. Dabei sind die Berührungspunkte sowohl in der digitalen als auch in der physischen Welt zu finden.
Ein gutes Beispiel dafür liefert Tesco, auch bekannt als Homeplus, aus Korea. Mit deutlich weniger Geschäften als der Marktführer E-Mart setzte sich Homeplus das Ziel zur führenden Supermarkt-Kette zu werden, ohne die Anzahl der stationären Geschäfte zu erhöhen. In diesem Zusammenhang ergaben Untersuchungen, dass arbeitende Koreaner den wöchentlichen Einkauf in Shops eher scheuen. Homeplus entschied sich daraufhin dafür, sein Geschäft direkt zum Kunden zu bringen und nicht umgekehrt. So machte sich Homeplus mit einer Außenwerbung in U-Bahn-Stationen stark: Mit virtuellen Geschäften war es so den Kunden möglich, die gerade auf ihren Zug warteten, alle Produkte über einen QR-Code zu bestellen. Nachdem die Kunden von der Arbeit zurückgekehrt waren, wurde die Ware direkt nach Hause geliefert. Mit der innovativen Aktion schaffte es Homeplus seine Online-Verkäufe mit über 130 Prozent zu steigern. Mittlerweile ist die Marke die Nummer eins unter den Online-Händlern. Auch in der Offline-Welt belegt der Supermarkt durch sein Online-Engagement Platz zwei.
Das Beispiel verdeutlicht die Chancen und Möglichkeiten, die sich daraus auch für Europa ergeben – denn auch hier zu Lande haben Supermärkte mit Platzmangel zu kämpfen. So könnten Händler Teile ihrer Produkte auf digitalen Shopping-Displays anbieten. Produkte wie Waschpulver etc. könnten dann bequem zu den Kunden nach Hause geliefert werden. Eine neue Geschäftsidee, mit der sich sicherlich neue Kunden gewinnen lassen. Schließlich ist die Umsetzung dieser Idee für Kunden praktisch, bequem und auf Bedürfnisse der heutigen Zeit abgestimmt. Mit der phygitalen Interaktion können somit Marktanteile und Umsätze gesteigert werden. Die neue Markenkommunikation lässt Verbraucher zu einem Teil einer Erfahrung werden: Marken werden zu Geschichten, unterhalten, bereiten Spaß und Nutzen – vor allem aber werden sie interessanter und spannender.
Entscheidende Technologien für Industrie 4.0 bzw. Phygital
Für Industrie 4.0 sind vor allem Technologien mit Sensorik und Aktorik mit eingebetteter Intelligenz entscheidend, damit intelligente Produkte ihre Umgebung wahrnehmen und mit ihr interagieren können. Zudem spielt die drahtlose Kommunikation eine wichtige Rolle: Bedeutsam sind Breitband-Mobilfunk oder RFID (Radio-Frequency Identification). Zudem sind semantische Beschreibungen von Diensten und Fähigkeiten wichtig, die eine Interaktion von Produktstücken und Maschinen auf intelligente Art und Weise gewährleisten. Durch „Plug and Produce“ wird es ermöglicht, dass Maschinen ihr Umfeld automatisch erkennen und sich mit anderen Maschinen vernetzen. Damit gelingt der Austausch von Informationen über Aufträge, Auslastung und optimale Fertigungsparameter. Folglich ist eine Steuerung von Maschinen mittels Software über Mobile Devices möglich.
Industrie 4.0 – auf dem Weg zur Social Machine
Eine Neuerung durch Industrie 4.0 sind intelligente Produkte: Mit der Einführung künstlicher Intelligenz rechnen Experten mit einer weiteren industriellen Revolution, die starre Automatisierungshierarchien ablösen und Netzwerke aus intelligenten und interagierenden Komponenten vorantreiben wird. In Zukunft werden sich so Produktionssysteme selbst organisieren und Prozesse werden flexibler und dynamischer.
Mit den neuen Entwicklungen und Fortschritten in der Technologie werden Produkte selbst aktiv und wissen, wie sie bearbeitet werden müssen. „Das Internet der Dinge kommt in die Fabrik“, so Henning Kargmann, Präsident der Deutschen Akademie für Technikwissenschaften. Die Entwicklungen im Bereich Industrie sind mit dem Web 2.0 vergleichbar. Auch hier wurden aus passiven Nutzern aktive Teilnehmer, die mit dem System interagierten. Laut Kargmann werden die Entwicklungen in der Industrie ähnlich verlaufen: „Industrie 4.0 ist also eine Art Web 2.0 für Produkte: Aus einer zentralen Produktionssteuerung wird ein dezentraler, sich selbst organisierender Prozess.“
Die Vorteile der Entwicklungen liegen auf der Hand: Maschinen agieren autonom und können sich je nach Fertigungsbedarf umrüsten, Technologiedaten abgleichen und Anpassungen vornehmen. Das verspricht nicht nur zeitliche Einsparungen, sondern auch eine sinkende Fehlerrate sowie weniger Ausschuss.
Fazit / Ausblick
Die digitale Transformation entwickelt sich im Handel rasant schnell und wird durch neuartige Technologien, sich wandelndes Shopping-Verhalten und den wachsenden Wettbewerb unter Händlern vorangetrieben. Hinzu kommt der strategische Nutzen für Händler sich immer wieder neu zu erfinden und zu definieren. Der Einzelhandel verschmilzt dadurch immer mehr mit mobilen und digitalen Technologien. Das Ergebnis ist nicht nur ein neues Shoppingverhalten der Kunden, sondern auch eine neue Umgebung, in der Händler agieren. Dadurch kreuzen sich physische und digitale Welten. Der Trend geht ganz klar in die Richtung, digitale Innovationen mit der realen Welt zu koppeln und umgekehrt. Das nachfolgende Video zeigt, wie das Shopping-Verhalten in naher Zukunft aussehen könnte:
"Industrie 4.0" und "Phygital Marketing" beschreiben zwei physisch-digitale Systeme, die sich gegenseitig befruchten und voneinander lernen können. So kann Industrie 4.0 vom phygitalen Marketing profitieren und umgekehrt. Industrie 4.0 fehlen beispielsweise der "Drive" und der "Enthusiasmus", wie es bereits beim phygitalen Marketing gelebt wird. Auf der anderen Seite kann das "Phygital Marketing" von den Industrie 4.0-Infrastrukturen lernen.
Es bleibt spannend, wie sich das Thema in Zukunft weiter entwickeln wird und wie die beiden Welten zusammenfinden werden.