Wie man Bücher nicht liest

Die Digest-Methode

Stattdessen bin ich ein Mensch, der eine nicht bewältigbare Anzahl ungelesener Bücher im Regal hat. Der immer neue Bücher bestellt und dann mit sich und der Welt hadert, weil er einfach nicht hinterherkommt. 

Allein um die Bücher von Peter Drucker zu lesen, bräuchte ich Jahre. Und die muss ich lesen, da will ich gar nicht drüber diskutieren. Ich habe schon alles versucht, sogar das Fernsehen aufgegeben. Trotzdem: Ich schaffe es nicht. Deshalb habe ich in den letzten Monaten eine perfide, mir beinah ekelhafte, aber wirkungsvolle Strategie entwickelt, wie ich Bücher nicht lese. Und dennoch den bestmöglichen Einblick in die Bücher habe, denke ich. Zumindest soweit das möglich ist, ohne das Buch tatsächlich zu lesen. 

Asche über mein Haupt 

Und ich oute mich. Ja, ich gebe es zu. Wie ein Aufschneider, Blender, Pseudo-Intellektueller lese ich nicht die Bücher, sondern Zusammenfassungen und Rezensionen. Das dauert weniger als 20% der Zeit und bringt, schwer zu sagen, vielleicht 80% des Benefit, falls Herr Pareto immer recht hat. Vielleicht auch nur 40% oder 50%. Hängt vermutlich auch vom Buch ab. Um das Ganze noch zu optimieren, nutze ich Hören und Lesen. Natürlich höre ich nicht das Hörbuch, das dauert ja auch ewig und drei Tage, nein, nein. Here we go, hier kommt meine Lösung für mein Lese-Problem. 

80% Buch in 20% der Zeit 

Zunächst höre ich die Buchzusammenfassung auf blinkest.com an. Kostet was, leider (89 EUR im Jahr), und ich bin von der Qualität der Exzerpte nicht immer überzeugt. Drei Faktoren machen für mich aber den Vorteil aus: blinkist hat die größte Auswahl an Büchern, ich kann die Zusammenfassung anhören (nicht nur lesen) und ich kann die Audiofiles auf einfache Weise lokal in der Handy-App speichern, so dass es egal ist, wenn ich offline bin. 

Zusätzlich lese oder höre ich die Zusammenfassung von getAbstract, einem Dienst ähnlich wie Blinkest, aber kleiner, teuerer und deutlich besser von der Qualität her. Falls verfügbar lese ich auch die Zusammenfassung auf instaread, noch einem ähnlichen Dienst. (Es gibt noch einen, nämlich joosr, dessen Auswahl ich aber unattraktiv fand.) 

Wenn möglich, schaue ich ein Video des Autors an, viele der Autoren halten öffentliche Vorträge. Um ein Gefühl für die Person zu kriegen und die Inhalte aus erster Hand zu kriegen, ist das eine gute Methode. 

Danach lese ich Kritiken auf Goodreads, einer Bücher-Plattform, auf der intelligente Leute intelligente Rezensionen schreiben, keine Trolls so weit das Auge reicht. Dann google ich evtl. noch nach Zusammenfassungen und Rezensionen und lese ein bis zwei. Das war's. Ich behaupte: Deutlich mehr als 20% Buch in (höchstens!) 20% der Zeit. 

Ein Beispiel: Reinventing Organisations von Frederic Laloux 

Wer sich mit Organisationsentwicklung beschäftigt oder New Work oder Agile, ist sicher in den letzten Jahre auf das Buch „Reinventing Organisations“ von Frederic Laloux gestoßen. Ich habe es zuhause. Ungelesen. Ich hab mir sogar noch die Comic-Variante gekauft, die hab ich gelesen, hatte aber nicht den Eindruck, dass das reicht. Außerdem: Sagt man in einer Diskussion, in der es plötzlich um Frederic Laloux geht, „Ja, kenn ich, ich habe die Comic-Variante gelesen“, macht man nicht unbedingt den Eindruck, den man evtl. gerne erzielen will. 

Auf blinkist gibt es die Zusammenfassung schriftlich und als Audio mit einer Länge von gut 20 Minuten. Die Zusammenfassung von getAbstracts ist von der inhaltlichen Qualität – wie gesagt – m.E. deutlich besser. 

Die Nutzer-Rezensionen auf goodreads geben einen sehr guten Einblick: Die Ideen im Buch sind gut, Laloux' Tendenz zu blumiger, esoterischer Betrachtung werden von vielen als Nachteil empfunden ebenso wie seine Wiederholungen und Langatmigkeit im Text. 

Videos mit Laloux' Vortrag sind informativ und geben mir ein gutes Gefühl für den Autor und einen guten Überblick über sein Thema. 

Alles in allem habe ich circa zwei Stunden einen m.E. sehr guten Einblick in das Buch und die Gedanken des Autors bekommen. 

Ein weiteres Beispiel: Black Swan von Nassim Taleb 

Black Swan ist ein interessantes Buch aus dem Jahr 2007, erweitert im Jahr 2010. Nassim Taleb ist Finanzmathematiker, Ex-Trader an den Märkten und Philosoph. In Black Swan beschäftigt er sich mit Ereignissen, die extrem unwahrscheinlich sind, jedoch enormen Impact (Einfluss, Auswirkung) haben. Solche Ereignisse nennt er Schwarzer Schwan, weil sie aus der bisherigen Geschichte – wir sehen dauernd nur weiße Schwäne – nicht vorherzusehen sind: Huch, ein schwarzer Schwan, was ist denn nun los?! An der Börse sind das etwa unerwartete Crashes, es können neue Erfindungen sein, die die Welt auf den Kopf stellen, Kriege oder Ereignisse wir 9/11, die Entdeckung Amerikas, des Penizillins oder eine nicht erwartbare Naturkatastrophe. 

Mein Vorgehen: 

Ich habe Teile des Buches gelesen. Das tue ich ja normalerweise nicht, hüstel, siehe oben. Hier tat ich es, um mir ausgehend von den Zusammenfassungen ein Bild zu machen. 

Ich hörte die Zusammenfassung auf blinkist.com an. 

Ich hörte die Zusammenfassung auf instaread.co an. 

Ich las die Zusammenfassung auf getAbstract.com

Ich schaute ein paar kurze Videos von Taleb an. 

Ich las einige Rezensionen auf goodreads.com

Insgesamt fand ich für Black Swan die Zusammenfassung auf instaread am fundiertesten, auch die auf getAbstract war sehr gut. Wie üblich – sorry – hatte die auf blinkist den geringsten Tiefgang. Die Wiederholung, das Buch in drei verschiedenen Zusammenfassungen zu erleben, nützt mir aber für Gedächtnis und Gedankenanregungen. 

Mein Vergleich aus selbst Gelesenem und Zusammenfassungen: Taleb ist vermutlich ein Genie, und wie viele geniale Männer hat er eine narzisstische Tendenz, die das Buch vereinzelt amüsant macht, die ich mir aber auch gern erspare. Auch mischt er oft Anekdotisches ein, z.B. Erlebnisse mit seinem Mentor Benoit Mandelbrot, dem „Erfinder“ der Fraktale. Das ist interessant, aber eher für die intellektuelle Cocktail-Party-Diskussion. Für die Aussagen des Buches ist es kaum relevant. Wie auf Goodreads zu lesen, finden viele Leser Talebs Art ermüdend. Wie schön, dass die Zusammenfassung das wegfiltert. Was die Zusammenfassungen natürlich nicht leisten im Vergleich zum Buch: Anregung zum Nachdenken über einzelne Bemerkungen des Autors. Das Buch hat aber 624 Seiten. Und das pack ich halt nicht. 

Stattdessen habe ich wiederum in circa zwei Stunden (ohne Buchlese-Zeit) einen m.E. guten Einblick in Buch und Weltsicht des Autors bekommen. 

Ersetzt die Zusammenfassung, das Buch zu lesen? 

Nein. Überhaupt nicht. Ich würde aber soweit gehen, zu sagen, dass die hier dargestellte Methode und das Lesen des gesamten Buches nicht auf derselben Dimension liegen. Die Zusammenfassungsmethode, nennen wir sie die Digest-Methode, ist also nicht (oder nicht nur) weniger, als das ganze Buch zu lesen, sondern etwas anderes als das Buch zulesen. Eine andere Methode, sich mit einem Buch zu beschäftigen, als es zu lesen. Ähnlich wie bei Karte und Gebiet wird die Digest-Methode (Karte) uns nie auch nur annähernd den Aufschluss über das Buch (Gebiet) geben wie die reale Erkundung des Gebiets (das Lesen des Buches). Dennoch wissen wir über ein Gebiet, von dem wir eine Karte haben, enorm viel mehr als über ein unbekanntes Gebiet. 

Digest-Methode für den ehrlichen Lese-Bankrotteur 

Für mich liegt die Alternative ja, wie oben schon voller Scham zugegeben, nicht darin, entweder das Buch oder die Abstracts zu lesen. Sondern darin, ob ich die Abstracts lese oder halt gar fast nichts. Kurze Zeit habe ich gedacht, meinem Leseproblem mit dem Ansatz „Weighted shortest book first“ Herr zu werden. Basierend aufWeighted Shortest Job First (WSJF, eine Priorisierungsmethode, die z.B. in SAFe verwendet wird) ordnete ich Bücher nach ihrem vermuteten Wert für mich und setzte diesen mit dem Umfang des Buches in Beziehung. So wollte ich priorisieren, welche Bücher ich lese, um den maximalen Lese-Wert zu erzielen. Hat nichts gebracht, und jetzt, wo ich es niederschreibe, kommt mir die Idee auch ein bisschen psychotisch vor. Man sieht, wie sehr mich das Leseproblem beschäftigt. 

Alles in allem: Mit der Digest-Methode habe ich mich in kurzer Zeit zu vielen Büchern und Themen orientieren können. Sie ist kein Ersatz für das Lesen von Büchern, sie stellt aber eine Methode der intellektuellen und kreativen Bereicherung dar, die ich als wertvoll erlebe und nicht mehr missen will.